von TreborFaust » Fr 27. Jan 2012, 17:38
Es gibt ein paar Dinge, die einfach klar sind. Dinge, bei denen die Naturgesetze zwar vermutlich ihre Gültigkeit besitzen, jedoch nicht mit der väterlichen Strenge, mit der sie einen in der Luft verirrten Apfel zu Boden fallen lassen. Dinge, bei denen diese Naturgesetze nicht die treibende Kraft sind. Diese Kraft ist in solchen Fällen etwas Metaphysisches, eine Idee etwa, wie sie zum Beispiel Karlheinz Riedle manchmal hatte, wenn ein Ball in absolut unerreichbarer Höhe in den Strafraum flog und der Stürmer, mit 178 nicht von Natur aus dafür geschaffen, unerreichbare Bälle zu erreichen, sich in die Luft schraubte, dort eine Zeit lang verweilte, dann noch eine Zeit lang, bis er schließlich genau so hoch stieg wie nötig, um den Ball mit dem Kopf ins Netz des gegnerischen Tores zu befördern, wonach er in der Luft lediglich noch eine Weile jubelte. In solchen Fällen haben die Naturgesetze eher den Charakter eines quengelnden Bruders und geben sich mit der Anmerkung „Aber nachher kommst du dann wieder runter, ja?“ zufrieden. So ähnlich war es mit diesem Buch. Nach Douglas Adams' Tod konnte es nicht geschrieben werden. Aber es musste geschrieben werden. Also besannen sich die Naturgesetze, quengelten ein bisschen herum und sahen dann jemandem beim Schreiben neugierig über die Schulter.
Ebenso klar war vermutlich, dass ich genau im Alter von zweiundvierzig letztmalig etwas von Douglas Adams lesen durfte, auch wenn es nicht von Douglas Adams ist, aber vielleicht doch, oder wenigstens ein bisschen, wer weiß das schon. Ok, ihr merkt, wenn jemand so beginnt, dann ist das eine ähnliche Situation wie vor Barack Obama zu sitzen, der eine Rede beginnt mit „Ich will nur ein paar Worte sagen zu den Dingen, die wir erreichen können" oder wenn man versucht, ein Sparticket der Deutschen Bahn zu erwerben oder wenn man nur mal auf ein Bier ins Kraftstoff geht. Es wird jetzt also etwas länger dauern.
Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie ich zum ersten Mal von Douglas Adams hörte. Ich war neunzehn Jahre alt, leistete meinen Bundeswehrdienst ab und befand mich in meiner ersten Sinnkrise, was angesichts der Tatsache, dass ich den Kriegsdienst nicht verweigert habe, zwar ein relativ schwacher Einschub ist, aber immerhin ist es einer. Sicher war es auch eigentlich nicht meine erste Sinnkrise, wenn ich an das verlorene Tipp-Kick-Turnier mit dreizehn oder die Geschichte mit einem Mädchen Namens Emma oder so ähnlich denke, aber auf jeden Fall war sie in meiner persönlichen Sinnkrisenzeitachse relativ weit vorn. Nun muss man bedenken, dass wie in allen Armeen auch damals tendenziell Langweiler und Dummköpfe bei der Bundeswehr waren (obwohl dies vermutlich exakt der Zeitpunkt war, zu dem Deutschland am weitesten überhaupt in seiner Geschichte von kriegerischen Handlungen entfernt war), während die coolen, schlauen und entspannten Typen lieber ein paar Joints rauchten und sich nachts in die Wohnheimflure der Krankenschwestern schlichen. Jedenfalls war man in dieser Gemeinschaft in einer Situation, in der sich diejenigen, die mit so was wie einer Seele, ein bisschen Humor oder einer vernünftigen Weltanschauung ausgestattet waren, recht schnell gegenseitig erkannten. In dieser Gemeinschaft also kam eines schönen Tages jemand zu mir und sagte, er müsse mir ein Buch leihen. Das war schon etwas ungewöhnlich, denn es läuft ja sonst eher anders herum. Aber dieser Typ hatte mich sozusagen auserkoren. Es war ein gewisser Thomas Appelboom oder so, vielleicht hieß er auch Frank Apfelbom. Okay, ich kann mich doch nicht mehr so ganz genau daran erinnern. Jedenfalls unterbreitete er sein Angebot mit einer Eindringlichkeit, die mich davon überzeugte, ihn zumindest mit „Ich denk mal drüber nach, aber ich les' gerade nicht viel“ hinzuhalten, anstatt ihn einfach abblitzen zu lassen. Kurz darauf brachte er es mir einfach mit. Er bestand darauf, dass ich es lesen müsse und dass es mir außerdem besser gefallen müsse als alles andere. Nun, ich war 500 Kilometer von zu Hause, hatte Zeit und versuchte es. Aber ich kam nicht voran. Die Sätze kamen mir kompliziert und verschnörkelt vor und der Autor kam nie so recht auf den Punkt. In den folgenden Tagen und Wochen kam Kollege Olaf Appelboom immer wieder auf mich zu und fragte mit der Beharrlichkeit eines Nachbarn im Rentenalter nach. Wie es mir gefallen würde. Wann ich es endlich durch hätte. Schließlich, nach einer ganzen Weile, sagte ich ihm entschuldigend, dass ich es durchaus gut geschrieben fände, aber dass ich irgendwie nicht so recht den Kopf frei hätte und sicher noch lange brauchen werde. Er sah mich enttäuscht an und zog ab. Nach einer weiteren Weile sagte Stefan Appelboom dann mit dem Tonfall von jemandem, der einen Zettel mit einer geheimen Spartickethotline der deutschen Bahn verliehen hat, dass er das Buch nun endlich zurück haben wolle. So eindringlich war dieser Tonfall, dass ich vollkommen die uralte Regel missachtete, die besagt, dass geliehene Bücher niemals ohne Androhung körperlicher Gewalt oder die Aussicht auf Sex zurückgegeben werden, und überreichte ihm das Buch ohne weitere Verzögerung ein paar Monate später. Praktisch ungelesen. Trotzdem hatte ich das unbestimmte Gefühl, etwas verpasst zu haben. Natürlich wurde dieses Gefühl schnell von anderen unbestimmten Gefühlen, etwas verpasst zu haben überlagert, wie zum Beispiel die deutsche Einheit oder eine BVB-Meisterschaft, die von rücksichtslosen Stuttgartern in den letzten Spielminuten zerstört wurde wie eine Seifenblase, die von einem Panzer überrollt wird. Aber es ergab sich, dass ich ein weiteres Mal auf dieses Buch traf. Vier Jahre später, am Anfang einer anderen Geschichte, die mit einem Song von Nirvana endete.
In der Zwischenzeit hatte sich nicht nur Deutschland ein wenig verändert, sondern auch ich mich. Von einem unscheinbaren, zurückhaltenden Teenager, der niemals auch nur ein einziges Date hatte und der in den entscheidenden Situationen bei Frauen regelmäßig versagte, hatte ich mich zu einem wenig zurückhaltenden, passabel aussehenden Typen entwickelt, der ständig Dates hatte und in den entscheidenden Situationen bei Frauen regelmäßig versagte. Irgendwann traf ich eine geheimnisvolle, kluge Frau, bei der es mich ziemlich erwischte. In der Zeit, als wir uns so trafen und plauderten, beschloss ich, wieder zu lesen, eine Sache, die ich ziemlich vernachlässigt hatte, wenn man von ein paar Frauenbüchern absah, die ich, lasst es mich offen sagen, aus strategischen Gründen studiert hatte. Ich fragte die geheimnisvolle, kluge Frau nach einer Empfehlung. Sie empfahl mir „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kunderan. Sie empfahl es mir, weil sie es mochte. Natürlich war ich voller Enthusiasmus und hatte das Buch kaum drei Wochen später gelesen. Nach einem gemeinsam ignorierten Seminar unterhielten wir uns darüber vor einem Buchladen. Vielleicht war ich, rückblickend betrachtet, ein bisschen oberflächlich und eventuell auch ein wenig sehr selbstbewusst, was sich womöglich sogar zu einer gewissen Überheblichkeit ergänzte. Aber so was ist natürlich immer subjektiv, und sicher würde ein Angestellter der deutschen Bahn mit unbefristetem Arbeitsvertrag, der Spartickets verkauft, meine Antwort als keineswegs überheblich sondern im Gegenteil als vollkommen normal einstufen: „Also ich fand es nicht schlecht. Und die Geschichte ist ok. Aber irgendwie langweilig geschrieben. Gar keine tollen Sätze und nicht sonderlich geistreich. So ein Buch könnte ich auch selbst schreiben.“ Die Frau sah mich an und überlegte kurz. Dann betrat sie die Buchhandlung - ich zockelte hinter ihr her - und zog ein Buch aus einem Regal. „Dann wird dir bestimmt das hier gefallen.“ Ich sah auf den Umschlag, der mir komisch und keineswegs bekannt vor kam. Dann sah ich den Titel des Buches. „Per Anhalter durch die Galaxis“. Dieser Titel kam mir sehr bekannt vor.
Ich war also zum zweiten Mal für dieses Buch ausgesucht worden. Und schon nach wenigen Seiten wusste ich, dass ich ein neues Kapitel aufgeschlagen hatte. Nun ist das normal, wenn man ein Buch liest, aber in diesem Fall war es ein Kapitel von etwas anderem. Ein Kapitel meines Geschmacks und in gewisser Weise, auch wenn das wahrscheinlich ein wenig dramatisch klingen mag (man kennt das ja aus schlechten Filmen, wenn irgendeine Szene es nicht aus sich heraus schafft, interessant zu sein und mit ein paar Trommelwirbeln und Lichteffekten gehypt wird oder aus Talkshows, wenn die wirklich saftigen Lacher eingeschoben werden) , so möchte ich sagen, dass es zugleich auch ein neues Kapitel meines Lebens war. Mehr noch, es war mindestens ein Impuls, wenn nicht sogar der Impuls, die Dinge für alle restlichen Kapitel meines Lebens in einem anderen Licht zu betrachten. Ich verstand mich selbst nicht, jedenfalls nicht diejenige Ausgabe von mir, die es ein paar Jahre zuvor geschafft hatte, dieses Buch beiseite zu legen. Douglas Adams schrieb mit einer solchen Freude, mit einem solchen Überschwang, dass es mir eine Euphoriewelle nach der anderen über Stellen meines Körpers jagte, von denen ich gar nicht wusste, dass sie für Euphoriewellen überhaupt empfänglich waren. Er wechselte die Perspektiven auf unerhörte und überraschende Art und Weise. Er spielte mit Worten und Sätzen, streute hier eine originelle Übertreibung ein und zog dort einen so überraschenden Vergleich, dass ich staunte und laut auflachte, als beobachte ich einen BVB-Stürmer aus den 80ern vor dem Tor. Er schrieb geistreich und über alle Maßen witzig. Er baute geradezu obszön irrwitzige Satzkonstrukte, die einen beim Lesen derart hinters Licht führten, wie man es ansonsten nur selbst bei der Einschätzung der eigenen Paarungsaussichten vermag. Ich versuchte, mich zu bremsen und jeden einzelnen Satz so langsam wie nur eben möglich zu lesen, damit ich länger etwas davon hätte. Da ich nicht gewillt war, das Buch aus der Hand zu legen, bedeutete dies, bis zum Morgengrauen zu lesen, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, ob es wichtig wäre, am nächsten Tag ausgeschlafen zu sein.
Und doch flog ich gemeinsam mit dem deprimierten Protagonisten Arthur Dent derart leicht und schnell durch die Geschichte, dass mir kaum ihr trauriger Unterton auffiel. Erst am Ende dieses scheinbar fröhlichen Meisterwerkes bemerkte ich, dass es von der vergeblichen Suche nach dem Sinn des Lebens und der Zerstörung der Erde erzählt hatte. Die Traurigkeit, die ich im Rückblick unter der euphorischen Fassade des begnadeten Erzählflusses bemerkte, wurde nur noch erreicht von der Traurigkeit darüber, dass ich das Buch soeben zu Ende gelesen hatte.
Ich berichtete der Frau davon, begeistert und dankbar für ihre Empfehlung. Sie selbst fand das Buch ganz okay, was mich, wenn ich ein paar Jahre älter gewesen wäre, darüber in Kenntnis gesetzt hätte, dass wir keine gemeinsame Zukunft hatten. Ich fand mich in der Rolle eines gewissen Typen Namens Friedhelm Appelbom wieder, denn ich verstand ihren (und meinen früheren) Standpunkt ungefähr so gut wie den eines Kindes, das einen Tipp Kick Spieler aus der Hand gibt und sagt, es wolle lieber gleich mal für eine kleine Routineuntersuchung beim Zahnarzt vorbei schauen. Man musste dieses Buch lieben. Es gab auch ein paar andere Dinge, die zu müssen mir in dieser Zeit klar wurden. So zum Beispiel den Kriegsdienst zu verweigern. Das tat ich dann auch, was meiner Meinung nach ein viel besserer Einschub als eine simple Sinnkrise ist.
Eine beendete Beziehung und ein paar gute Songs von Nirvana später hatte ich alle Bücher von Douglas Adams gelesen: Die damals vier Teile der Anhaltertrilogie, von denen mir der erste und der vierte am besten gefielen und was es sonst noch von ihm gab. Außerdem fragte ich bei jedem einzelnen Besuch einer Buchhandlung nach, ob Douglas Adams nicht endlich etwas Neues geschrieben habe und wie lange es denn noch dauern würde und ob ich nicht seine Adresse haben könne, um ihn persönlich mit ein paar Beschimpfungen etwas zu motivieren. So ging es über Monate und Jahre. Leider kam viel zu wenig. Die großartigen Bücher über Dirk Gently und allen voran das das Sachbuch „Die letzten ihrer Art“, in dem seine unerreichte Fähigkeit, Traurig-Melancholisches mit geistreichem Witz zu verbinden, all ihre Dimensionen entfalten konnte. Douglas Adams viel zu frühen Tod am 11. Mai 2001 kann man natürlich nur als tragisch und einen unermesslichen, nicht auszugleichenden Verlust für die Literatur bezeichnen. Ich erspare dem Leser Anmerkungen darüber, wie zynisch und in seinem Fall doch fast ein wenig makaber-komisch es ist, dass jemand beim Fitnesstraining an einem Herzinfarkt stirbt. Tatsächlich war ich aber neben aller Traurigkeit auch ein bisschen wütend, dass Douglas Noel Adams so einfach verschwunden war, ohne noch weitere Bücher zu schreiben.
Nun ist also doch noch ein Buch erschienen. „Und übrigens noch was“ heißt es. Von einem gewissen Eoin Colfer, den ich gerne einmal persönlich befragen würde, wie man seinen Namen ausspricht. In Auftrag gegeben und ausdrücklich autorisiert von seiner Witwe (also, wie der kluge Leser ahnt, Adams', nicht Colfers Witwe) Jane Belson und mit Sicherheit auch gewünscht von Douglas Adams, der selbst mit dem fünften Band eher unglücklich war. Soweit ich weiß, übrigens mit originalen Passagen von Douglas Adams, wobei ich dies im Nachhinein nirgendwo mehr bestätigt finde. Nun. Eoin Colfer hat ein sehr gutes Buch geschrieben. Ein so gutes, dass der sechste Band für mich ein würdiger Abschluss der fünfteiligen Anhaltertrilogie geworden ist. Sicher kann er nicht die Erfindung der Anhaltergeschichte oder die Begründung eines neuen Humors für sich in Anspruch nehmen (Was Douglas Adams sehr wohl kann, denn ein eigener Humor entwickelte sich tatsächlich daraus - wobei heute leider häufig eine schlechte Variation erscheint, nämlich eine, die lediglich ein paar seiner Instrumente nutzt, ohne die dahinter liegende Tiefe zu besitzen), aber das kann er nicht können, denn dazu ist er nun einmal zu spät dran. Die Stärken jedoch, die Douglas Adams‘ Bücher hatten, finde ich wieder. Vielleicht ist es dem Echo meiner einstigen Euphorie geschuldet, aber ich finde, dass die Vergleiche, die Satzkonstruktionen, die Ideen und Perspektivenwechsel durchaus mit den denen der ersten Bände mithalten können. Die Charaktere finde ich sogar ein wenig schärfer gezeichnet, wobei ich vorab gehofft hätte, das Eoin Colfer genau das um Himmels Willen bloß unterlassen und statt dessen lieber neue entwickeln solle , um bloß nichts zu zerstören. Aber es war richtig. Er bindet sogar eine Menge loser Fäden zusammen, was einem Fan der fünf Vorgänger wehmütige Schauer über mindestens ein paar normale Stellen treibt, auch wenn man kritisieren kann, dass das Zusammenführen loser Enden nun wahrlich nicht ganz der Stil von Douglas Adams war. Ich vermute, dass er insbesondere im letzten Drittel auf sich allein gestellt war, aber vielleicht tu ich Eoin Colfer da Unrecht. Jedenfalls hat er bei mir eines geschafft: Ich habe oft laut aufgelacht, habe gesellschaftskritische Töne herausgeahnt (insbesondere religionskritische übrigens) und habe wieder bis zum Morgengrauen gelesen, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, ob es wichtig wäre, am nächsten Tag ausgeschlafen zu sein.